Schicksalspsychologische Traumdeutung in der Psychotherapie
Grundprinzipien der tiefenpsychologischen Traumdeutung
von Ines Grämiger, 2009
Folgende Grundprinzipien der Traumdeutung sollten eigentlich für sämtliche tiefenpsychologischen Schulen gelten und in der Praxis der Traumdeutung seriös und respektvoll angewandt werden.
Immer wieder aber sehe ich, dass diese Grundprinzipien, v.a. der Respekt vor dem Traum und dem Träumenden nicht genügend gewahrt wird. Es scheint mir daher äusserst wichtig, allen Deutenden von Träumen diese Grundprizipien wieder sehr intensiv in Erinnerung zu rufen.
Die Grundprinzipien, deren Gebote und Verbote, sollen zu einem wissenschaftlich gesicherten, seriösen und respektvollen Prozess bei der Traumdeutung in allen tiefenpsychologischen Schulen und bei sämtlichen Traumdeutungen beitragen.
Gebot: Der Respekt vor dem Traum, dem Träumer oder der Träumerin
Es ist von grosser Wichtigkeit, diese Haltung des Respektes zu wahren, d.h. dem oder der Träumenden seinen/ihren Traum zu „lassen“, diesen weder zu vergewaltigen, noch einzuvernehmen oder irgendwelche übergriffe durch eigene Projektionen zu machen.
Nur der Traum und der Träumende sind in der entsprechenden und wahrhaften Nähe zum Unbewussten und zu dem, was der Traum sagen möchte. Eingriffe von aussen sind wahrheitsverfälschend und meistens auch sehr respektlos.
Es besteht natürlich die Verführungsmöglichkeit, dass die deutende Fachperson mit ihrem Voraus-Wissen meint, den Traum besser zu verstehen als der träumende Laie oder meint, gar eigene Assoziationen zufügen zu können.
Dem ist aber nicht so: Der Traum und die Assoziationen des Träumenden sind in sich kohärent, spiegeln die Ganzheit und die Weisheit des Unbewussten.
Wir haben nicht das Recht, hier von aussen einzugreifen oder uns über den Träumer oder die Träumende zu stellen. Wir haben nur die Aufgabe, die Assoziationen des Träumenden zu leiten, klärende Nachbefragungen zu allen Szenen zu machen, Assoziationen zu diesen einzuholen, den Tagesrest zu erfragen etc.
Wir dürfen aber den Traum nicht zugunsten unseres Denksystems umdeuten.
Wir sollten abstrakte Begriffe und Angedeutetes nicht mit eigenen Bildern füllen oder zu raschen Kochbuchdeutungen von Symbolen neigen etc.
Wir selbst sollten uns als Deutende vom Traum selber leiten lassen, können ihn mit Fragen prüfen, in immer grössere Tiefen vordringen, dies auch beim Träumer veranlassen und diesen Weg mit ihm gehen. Wir dürfen nicht unser Eigenes in den Traum hinein projizieren. Wir dürfen nicht urteilen und von unserer Sicht aus werten. Damit zerstören wir nämlich die Wahrheit des Traumes und werden übergriffig.
Deshalb gilt als oberstes Grundprinzip des Deutens, dass wir fragen, fragen und nochmals fragen. Was immer uns nicht klar scheint, müssen wir erfragen und dürfen es nicht durch eigene Bilder und Selbstverständnisse oder Theorien ausfüllen.
Deshalb ergibt es sich auch, dass die heute recht in Mode gekommene Traumdeutung in Zeitschriften, ohne Befragung des Träumenden fachlich nicht seriös ist und nur rudimentär sein kann.
Dies scheint mir das oberste Prinzip der Traumdeutung und die wissenschaftlich und ethisch sauberste Haltung.
D.h., wenn ein abstrakter Begriff fällt, wenn Gefühle nicht spontan geäussert werden, haben wir nur das Recht, nachzufragen und nachzuforschen, aber niemals das Recht, an erster Stelle diese Fragen selbst zu beantworten.
Erst in einer zweiten Phase kann es uns erlaubt sein, die Jung’sche Technik der Amplifizierung anzuwenden, bei der Assoziationen durch andere einbezogen werden, (z.B. in eine Gruppe). Dabei ist aber auch zu beachten, dass diese Assoziationen mehr als Fragen und Hypothesen an den Träumer gestellt werden und er auch das Recht hat, diese abzulehnen, zu negieren oder zu modifizieren.
- Die Gefühle, welche ein Träumer zum Traum äussert, oder auch die Gefühle nach dem Traum, sind absolut ernst zu nehmen und z.B. nicht vom Deutenden ins Gegenteil zu verkehren. Auch hochintellektuelle Abwehrdynamiken als Konstrukte führen meist in die Irre und am Traum und dem Träumenden vorbei.Z.B. darf somit ein „Glückstraum“ nicht aus irgendwelchen Gründen in einen Horrortraum umgedeutet werden. Wir müssen die Aussagen des Träumenden ernst nehmen, dürfen ihm nicht die Würde nehmen oder die Kompetenz über den eigenen Traum.Falls z.B. dieser Glückstraum im massiven Gegensatz zum Leben des Träumenden steht, werden wir auf einem anderen Weg zu dieser Diskrepanz im Gespräch hinfinden – ohne dass wir den Traum gewalthaft umdeuten. Der Träumende selber wird irgendwann darauf zu sprechen kommen, ob diese Glücksgefühle nach oder im Traum kongruent oder divergent zu seinem Leben sind.Wir sollten nicht gescheiter sein als der Traum und die Träumende selber, sollten nicht ein riesiges Misstrauen gegenüber dem Träumenden und dem Traum haben und die Angst, dass dieser Traum uns in die Irre führen will. Begegnen wir einem Traum mit diesem Misstrauen und der Angst, dass dieser uns irreführen will, so vertrauen wir wohl selbst nicht der Weisheit des Unbewussten. Wir riskieren auch, durch eine solche, dem Gefühl des Träumenden widersprechenden Deutung und Verkehrung ins Gegenteil, dessen Vertrauen total zu verlieren und uns narzisstisch und erhöht über den Traum und den Träumenden zu stellen. Diese hypernarzisstische überheblichkeitshaltung ist nicht angezeigt bei einer Traumdeutung.Verbote bei der Traumdeutung
Nach dem Gebot des Respekts gegenüber dem Traum und den Träumenden nun zu den Verboten bei den Deutungen.
Es ist unzulässig, abstrakte Begriffe mit eigenen Vorstellungen und Konkretisierungen auszufüllen. Wenn ich bei einem Begriff sinnlich und visuell keine Szene vor mir sehe, darf ich sie nicht mit eigenen Bildern auffüllen, sondern ich muss mir bewusst werden, dass mir der Träumende bei der Traumerzählung kein konkretes Bild liefert – und muss demzufolge nachfragen.
Eine Träumerin erzählt mir, dass sie eine Münze am Boden sah und aufhob.. In meinem eigenen, unkontrollierten inneren Bild sah ich sofort eine Goldmünze vor mir. Die Wortwahl „Münze“ hatte in mir die Assoziation von etwas Kostbarem hervorgerufen, Bei der Nachbefragung zum genauen Aussehen, der Farbe, der Form der Münze, stellte es sich aber heraus, dass die Münze klein und kupferfarbig und von geringem Wert war..
- Wenn Gefühle zu verschiedenen Traumsequenzen fehlen, so ist es dem Deutenden nicht erlaubt, diese Gefühle selber zu postulieren, sondern es ist dringend nötig, diese Gefühle zu erfragen.
- Es ist in der ersten Phase der Traumdeutung auch nicht erlaubt, kochbuchartige Symbol-Deutungen nach den Theorien von Freud, Jung, Adler oder Szondi einfach über den Traum zu stülpen und als Wahrheit zu exponieren.Immer muss zuerst die Assoziation des Träumenden erfragt und respektiert werden.Erst dann ist es möglich, mit dem Träumenden auch Symbolik aus dem kollektiven oder familiären Unbewussten als Hypothese aufzustellen und zu diskutieren. Niemals aber dürfen diese allgemeinen Deutungen als höhere Wahrheiten, welche über den Assoziationen des Träumenden stehen, aufgefasst werden.Interveniert der Deutende zu rasch mit allgemeinen Deutungsthesen, so wird meist die Assoziation und die eigene Deutung des Träumenden unterdrückt.Denn der Träumende hat als Laie meist gegenüber der deutenden Fachperson ein gewisses Minderwertigkeitsgefühl, ist sehr stark beeinflussbar und wagt kaum, dem Deutenden zu widersprechen. Wahrt man hier nicht den Respekt gegenüber dem Träumenden, kann man mit wenigen Interpretationen dem Träumenden quasi seinen Traum wegnehmen, ihn für eigene Zwecke einverleiben – und damit an der Wahrheit und Aussagekraft des Traumes vorbeizielen.
- Es darf auch niemals ein Traum von sich aus als übertragung auf sich (den Therapeuten, den Traumdeuter) bezogen werden, ohne dass der Träumer nicht eine solche Assoziation vorlegt.
1. Beispiel: Hierzu gibt es in der Literatur ein Beispiel eines Traum-Seminarleiters, welcher ohne Assoziationen der Träumerin eine Figur ihres Traumes, die im Traum in einer Liebesbeziehung zu ihr steht, ohne Fragezeichen auf sich bezogen hat. Dies sind unerlaubte narzisstische Einvernahmen eines Traumes durch den Deutenden.Die Träumerin träumte in einem langen, erotisch-spirituellen Traum von einem Gutsherren mit blauen Augen. Der Seminarleiter nahm ohne Nachbefragung und ohne Einholung der Assoziationen an, dass mit dem Gutsherrn er gemeint sei und bemerkte, dass Uebertragungen solcher Art und erotische Anziehungen zum Leiter in Seminarien sehr häufig vorkämen… In der Folge konnte er auf die Figur des Gutsherrn und dessen Symbol nicht mehr objektiv eingehen, was zu einer totalen Verzerrung der Traumdeutung führte. Bei der später erfolgten Nachbefragung der Träumerin durch eine andere Fachperson schuf die Träumerin bei der Assoziation zum Wort „Gutsherr“ eine klare Verbindung zu ihrem eigenen, verstorbenen Ehemann, der früher wirklich auf einem Gut im Osten gelebt hatte und blaue Augen hatte. Der Seminarleiter hingegen hatte braune Augen, glich auch in keinster Weise vom Körperbau her gesehen dem „Gutsherrn“ im Traum. Ausserdem negierte die Träumerin entschieden eine besondere erotische Anziehung zum Seminarleiter.
2. Beispiel: die zu rasche Jung’schen Symboldeutung eines Tieres:Eine angehende Psychotherapeutin erzählt in einer Traumgruppe von der sie existenziell einengenden eigenen Mutter, mit der sie zwangsweise im Exil hier in der Schweiz in einer gemeinsamen Wohnung zusammenleben muss und die ihr das Leben verleidet. Sie hat nicht den Mut, die Mutter in eine eigene Wohnung „abzuschieben“. Nach der Darstellung dieser Lebenssituation, quasi als Tagesrest erzählt sie den Traum:
Im Traum wird sie von einer Ratte belästigt, welche ihr alles wegfrisst in der Wohnung, Schäden hinterlässt, sie nicht schlafen lässt etc.
Der eifrige jungianische Traumdeuter fällt kurz nach dieser Schilderung des Traumes voreilig ein mit der allgemeinen kollektiven Deutung der Ratte nach Jung und meint: „In der Jung’schen Deutung und im kollektiven Unbewussten ist die Ratte ein heiliges Tier, ein Zeichen der Weisheit. Sei dankbar, dass du deine Mutter oder diese Ratte bei dir beherbergen darfst.“
Hier wird es offensichtlich, dass der Deutende nicht auf die Aussagen der Träumerin und ihr Leiden an der Mutter eingegangen ist, dass er die subjektive Deutung und persönliche Deutung der Ratte nicht aufgenommen hat – und mithin mit den Assoziationen der Träumerin nicht respektvoll umgegangen ist. Er hat durch die kollektive Symbol-Deutung den Traum völlig umgekehrt und fehlgedeutet. Dadurch konnte er der Träumerin bei der Traumdeutung auch nicht helfen, eine Lösung der schwierigen Lebenssituation mit der Mutter herbeizuführen.
Es mag zwar sein, dass in irgendeinem Traum die Ratte als kollektives Symbol des Unbewussten, mal als Weisheitssymbol auftauchen kann – wenn auch eher in den Kulturen des Ostens als des Westens. Aber dann müssten ja die Assoziationen des Träumenden dies klar anzeigen.
Technik der Nachbefragung
In vielen Diskussionen zum Thema Traumdeutung, sei es in Einzelgesprächen, in Seminaren oder Supervisionen oder beim Lesen von Traumdeutungen in Zeitschriften (meist ohne Assoziationen des Träumenden) wurde mir bewusst, dass etwas vom Wichtigsten bei der Traumdeutung die aktive und differenzierte Nachbefragung zum Traum ist.
Immer, wenn wir abstrakte Begriffe antreffen oder Gefühle zu gewissen Szenen fehlen, soll der Deutende klar den Träumer nachträglich darüber befragen.
Eine Traumdeutung ohne diese feinsinnige und sorgfältige Nachbefragung mit sämtlichen kleinen Assoziationen und differenzierten Gefühlsäusserungen ist vorher nicht erlaubt.
Viel zu gross ist nämlich die Gefahr, dass der Deutende alles Fehlende durch eigene Bilder ausfüllt und damit eigene Projektionen macht auf den Traum.
Bei dieser Nachbefragung braucht es eine äusserst grosse Disziplin, eine wachsame Wahrnehmung betreffend fehlender Informationen durch den Träumenden. Diese Befragungstechnik zu erlernen, braucht intensive übung mit verschiedenen Träumen und die spezielle übung zur Erstellung eines entsprechenden Fragekataloges an den Träumenden. Je geübter der Deutende ist, desto rascher fallen ihm die Fragen ein, erkennt er die fehlende Information.
3. Beispiel: In einer Traumerzählung erzählt die Träumende von einer „Bedrohung durch eine Frau, welche immer näher kommt“.Ich möchte Sie als Leser nun dazu auffordern, sich selbst bewusst zu werden, welche konkrete Art der Bedrohung Sie nun vor Augen sehen. (Lassen Sie sich etwas Zeit, schreiben Sie nun den inneren Film, den Sie vor sich sehen, auf – und vergleichen Sie diesen später mit dem inneren Film, der nach der Nachbefragung der Träumerin vorliegt).
Ist es eine Bedrohung durch einen Gesichtsausdruck, durch ein Messer, durch Bewegung, durch eine grimmige Maske? Wie und in welcher Geschwindigkeit nähert sich die Bedrohung? Welche weiteren Details sehen Sie vor dem inneren Auge, welche Farben nehmen Sie wahr? usw.
Es soll uns nun anhand dieses Beispiels bewusst werden, dass das Wort „Bedrohung“ ein völliges Abstraktum ist, welches visuell nicht fassbar ist – und damit Tür und Tor für eigene Projektionen öffnet.
Wir tendieren dazu, fehlende Information durch Eigenes auszufüllen.
Es braucht daher äusserste Disziplin und eine grosse Bewusstheit darüber, ob es wirklich der „innere Film“ der Träumenden und somit der echte, ursprüngliche Traumablauf ist, den wir sehen – oder ob wir fälschlicherweise einen eigenen inneren Film entwickelt haben.
Durch die Nachbefragung soll ein „Traum-Film“ entstehen, der möglichst nah am Traumgeschehen selbst liegt.
Im obigen Beispiel stellte sich durch die Befragung heraus, dass die Bedrohung weder durch ein Messer, noch durch eine Maske, noch durch Worte oder körperliche Bedrohung entstand, sondern dass es eine existenzielle Bedrohung war gegenüber dem eigenen Selbst. Es war das Bild einer totalen Vernichtung des eigenen Wesens.
Diesen Grad der Bedrohung hatte keiner der anwesenden Gruppenteilnehmer während der Träumerzählung in seinem eigenen Bild gesehen. D.h., die Bedrohung, welche die Träumerin hier erlebte, überstieg unsere inneren Bilder um das Vielfache.
Eigene Assoziationen, Amplifikationen und Deutungen aus dem kollektiven und dem familiären Unbewussten erst in einer zweiten Phase!
Es kann zwar wertvoll sein, dass sowohl der Deutende, bei einem Gruppenexperiment auch die Zuhörenden bei der Traumerzählung in Forrm der Amplifikationsmethode nach Jung, ihre eigenen Assoziationen hinzufügen.
Bei Szondianern können hier nicht nur die eigenen, persönlichen Assoziationen, sondern auch die Deutungen der Objekte und Tätigkeiten gemäss den Triebbbedürfnissen der Schicksalsanalyse eingebracht werden sowie die Deutungsansätze aus dem familiären Unbewussten.
Diese Deutungen dürfen aber niemals als zwingend angeschaut, sondern nur als Hypothese und in Frageform an den Träumenden herangebracht werden.
Erst dann sind wir sicher, dass diese Amplifikationen einen weiteren Schritt zur Wahrheit der Traumdeutung beitragen und nicht den Traum quasi vergewaltigen und in einer falschen Richtung umdeuten.