Verliebtheit Ines Grämiger 2013 (Ein Interview, geführt mit der Journalistin Nicole Tabanyi, Okt. 2013) N.T. "Frau Grämiger, warum erscheint uns die Liebe auf den ersten Blick oft schicksalshaft?"
I.G. "Weil bei diesem Coup de foudre, diesem Blitz der Anziehung in belebender und berauschender Art sämtliche unsere "Kontrollen" - unser Ich, unser Ego, unser Wille und unser Verstand - lahmgelegt werden und etwas geschieht, was unser gesamtes "System", von durchaus angenehmen Emotionen begleitet, überwältigt, sodass wir das Gefühl haben, das entspringe nicht aus uns selbst. Wer sich so intensiv und plötzlich verliebt, vermutet oft eine höhere Macht dahinter: das Schicksal hat bestimmt und nicht wir selbst. Diese Ueberrumpelung und diese Hingabe an das Schickalshafte wird aber durchaus als angenehm erlebt. Ein Sinnbild dafür ist auch Amor, der Liebesgott aus der Antike mit seinem Liebespfeil, der uns trifft." N.T. "Wie erklären Sie sich das als Psychologin?" I.G. "Das eigene Unbewusste erkennt innert Sekunden bei einer ersten Begegnung - nur schon, wenn jemand zum erstenmal zur Tür hereinkommt - zum Beispiel eine tiefe Wahlverwandtschaft, wie sie schon Goethe beschrieb, und reagiert mit dem Gefühl der Sympathie und Zuneigung bis zu erotischer Begierde - oder aber auch mit Antipathie". N.T. "Und das reicht, um sich zu verlieben?" I.G. "Ja, denn das Unbewusste erfasst die Tiefe der gesamten Persönlichkeit des Gegenübers, auch anhand von Gesten, der speziellen Atmosphäre und Schwingung, die von dieser Person ausgehen und nimmt viel umfassender wahr als all unsere bewusste Wahrnehmung oder unser Kopf. Aufgrund dieser Fülle an Informationen fühlen wir uns dann zu diesem Menschen hingezogen oder eben nicht. Und je grösser die übereinstimmung mit uns selbst und unseren eigenen Bedürfnissen ist, desto tiefer geht diese Wahlverwandtschaft. Diese Wahlverwandtschaft kann bis zu einer Aehnlichkeit der genetischen Strukturen gehen." N.T. "Das heisst?" I.G. "Dass wir auf Anhieb von diesem Menschen fasziniert sind. Wenn sich zwei Wahlverwandte begegnen, stellt sich im Nu ein Gefühl des Wohlbefindens, des Vertrauens und der Geborgenheit ein. Man versteht sich ohne Worte aufgrund ähnlicher Schwingungen und ähnlicher Bedürfnisse. Darum erleben viele Menschen die Liebe auf den ersten Blick als äusserst positiv und erfüllend, als etwas, das sie schlagartig hellwach und sehr lebendig macht." N.T. "Was ist mit Herzrasen und den weichen Knien? ähnliche Symptome gibt es ja auch bei der Prüfungsangst." I.G. "Ja, das Herzrasen der Verliebtheit und sämtliche Aengste erzeugen aufgrund des hohen Adrenalinausstosses ähnliche Körpersymptome. Aber kognitiv ordnen wir diese anders ein und definieren sie anders. Die Panik ordnen wir klar den unange-nehmen Gefühlen zu und erleben diese als bedrohlich, die Verliebtheit hingegen ordnen wir den angenehmen, lustvollen und positiven Gefühlen zu. Letzteres vor allem auch, weil dabei auch noch Glückshormone hinzukommen. In beiden Fällen aber befinden wir uns in einem höchsten Erregungs- und Alarmzustand mit extremer Belebung und Wachheit - und spüren uns intensiv. Liebe und Angst gehen aber in ihrem Verlauf und in ihrer Zielsetzung in zwei verschiedene Richtungen. Wer liebt, sucht die Nähe zu seinem Objekt der Begierde. Packt uns aber die Angst, so werden Flucht- und Verteidigungsreaktionen aktiviert, wir gehen auf Distanz, weil wir Angstsituationen egal welcher Art, zu vermeiden suchen." N.T. "Dürfen wir der Liebe auf den ersten Blick trauen?" I.G. "Die Crux des Coups de foudre ist, dass wir sowohl gesunde wie auch kranke Teile in uns haben, welche bei der Verliebtheit mitwirken! Wenn es die gesunden Anteile in uns sind, die beim Coup de foudre beteiligt sind, dann wählen wir in der Verliebtheit auch die gesunden Teile des Partners und ziehen diese an, was zu glücklichen Beziehungen führt. Wenn jedoch die Anziehung auf gemeinsamen, verborgenen, kranken Teilen in uns basiert, dann können wir in schwierige und unglückliche Beziehungen geraten, indem die kranken Anteile sich in der Paarbeziehung oder dann auch in den Kindern (genetisch) noch potenzieren. Die Schicksalsanalyse spricht dann von neurotischer Wahlkrankheit und versucht, diese zu bearbeiten durch Einsicht und Bewusstwerdung. Oft muss man dann auf diese fatalen Anziehungen, diesen "kranken" Coup de foudre in der Liebe verzichten lernen im Laufe des Lebens und stattdessen diese Anziehung zum Beispiel eher im Beruf zu leben. Zum Beispiel wurde eine Sozialarbeiterin schlussendlich glücklicher, als sie sich beruflich mit Alkoholikern zu befassen begann als diese Anziehung und Faszination im Privatleben immer wieder mit sich wiederholenden unglücklichen Liebesbeziehungen zu leben." N.T. "Was, wenn der Liebespfeil nicht beide trifft?" I.G: "Dann muss man sich sagen: Das kommt immer wieder vor, das ist ganz normal. Offenbar erlebt der andere diese Wahlverwandtschaft nicht in demselben Masse oder manchmal ist es auch nur eine Frage des Timings, das heisst, nicht der richtige Zeitpunkt für beide. Mit einem solchen Nein müssen wir alle leben. Dann heisst es, Trauerarbeit zu leisten, um über die Enttäuschung hinwegzukommen. Man sollte sich dann aber auch nicht zu sehr infrage stellen oder gar sich selbst abzulehnen beginnen. Lieber offen bleiben für eine nächste Begegnung und hoffen, dass man in Zukunft auf einen Partner mit derselben, gesunden Anziehungsintensität trifft." N.T. "Hoffen, vielleicht auch auf eine Liebe auf den 10. Blick?" I.G. "Ja, denn auch ohne grosse Verliebtheit kann aus einer Beziehung eine echte Liebe mit viel Wohlwollen und Loyalität erwachsen, vor allem bei einer Partnerschaft, die auf guten, realen Gemeinschaftserfahrungen beruht und ohne Fouls und grosse Verletzungen auskommt - auch wenn die Schmetterlinge im Bauch fehlen. Wir bedauern dann vielleicht, dass wir das Gefühl höchster Verliebtheit vermissen, denn wir lieben alle dieses Gefühl in uns. Doch statt der Verliebtheit kommt man vielleicht in den Genuss einer tiefen Liebe." N.T. "Es gibt ein chinesisches Sprichwort, das sagt: Die beste Art zu merken, dass man ein Herz hat, ist sein Herz an jemanden zu verlieren. Was halten Sie davon?" I.G. "Es ist auch immer wieder ein schönes Gefühl, sich selbst etwas zu verlieren, sich an einen andern hinzugeben. Hingabe und Selbstverlust in der Verliebtheit befreien uns von unseren eigenen Fesseln und unserer Enge, bringen uns zu höchster Lebendigkeit, zum Aufruhr des ganzen Körpers und wir erleben uns selbst völlig neu. Manchmal liebt man sogar mehr diesen eigenen Zustand als dass man den Partner liebt!" Hinweis: das Interview erschien in gekürzter Form in der "Schweizer Familie" Nr. 46, 14. Nov. 2013 (S.46)
innerhalb des Artikels von Nicole Tabanyi "Das pure Glücke auf den ersten Blick", S. 43f |